Freitag, 17. September 2010

Die „guten alten Zeiten“ oder was König Lear und die AÜ gemeinsam haben (Sebastian Strottmann)

Ein klassischer, nüchterner Fachbericht steht mir – wie jene bestätigen werden, welche meine Beiträge von Xing kennen – nicht wirklich gut zu Gesicht.

Da ich jedoch nichts desto trotz meiner Funktion als Gastautor nachkommen möchte, ist mein Ansatz dieses ersten Blog-Versuchs – ich bitte daher schon mal präventiv um Nachsicht – ein anderer.

Ich versuche die Stimmung und den Geist dessen aufzufangen, was die meisten von uns – bewusst oder unbewusst – spüren. Ein Sturm steht der Branche bevor.
Die Kernfrage – jene, ob uns dieser Sturm sinken lassen oder uns nur durchrütteln wird – ist es, welche derzeitig das Tagesgeschäft von uns allen überschattet.

Wie wird es weitergehen gleichermaßen unter Berücksichtigung der – teils naivromantischen, teils blindaktionistischen – Vorschläge aus dem politischen Feld, der Europäischen Entsenderichtlinie, deren Umsetzung selbst heute, weniger als dreieinhalb Monate vor Inkrafttreten nicht mehr Kontur angenommen hat, wie am ersten Tag Ihres Beschlusses und nicht zuletzt, dem gesellschaftlichen Druck, welcher sich – sowohl gegen die Tarifpartner, als auch gegen einzelne Unternehmen – jeden Tag stetig steigert.

An diesem Punkt schaue ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurück an meinen persönlichen Beginn in der Branche – zum Anfang des neuen Jahrtausends.

Ohne mich zu einem obligatorischen „Früher war alles besser“-Monolog hinreißen lassen zu wollen, muss mir – so hoffe ich – dennoch die Mehrheit der Leser, welche schon langjährig in der AÜ tätig sind, beipflichten wenn ich sage, dass die Branche in längst vergangenen Tagen bodenständiger und ehrlicher war, als sie es heute ist.

Erinnern wir uns doch – nur für einen kleinen Moment – an jene Tage, an denen wir uns „Zeitarbeit“ nannten – nicht „Personaldienstleister“, „Wertschöpfungspartner“, „Human Ressources Specialist Junior assisting Account Manager“-Anglizismen-bullshit.

Erinnern wir uns an die Zeit, als wir Vertriebsdisponenten waren – ohne „Hunter & Farmer“-Schemas, ohne Recruiter und ohne Titel, deren Wortgewalt meist in antiproportionaler Relation zu dem realen Anspruch der Position steht.

An die Zeit, in der das SIS noch das SIS war und nicht die Jobbörse.

Als wir – im Falle einer überraschenden Abmeldung – selbiges durchkämmen konnten und fast immer eine zeitnahe Alternative für einen gewerblich-technischen LAN fanden und wir uns überrascht zeigten, als von 100 Treffern vielleicht 20% andere Arbeitnehmerüberlasser gelistet wurden.

An die Zeiten, in denen wir unsere lokalen Wettbewerber – zumeist persönlich – kannten und die meisten von ihnen respektierten.

Als Geschäftsführer noch den Schneid dazu besaßen, Arbeitsanweisungen schriftlich per Fax, Mail oder Post darzustellen und nicht überwiegend in – bewusst – rein mündlicher Form, damit es keinen schriftlichen Nachweis über eben jene Anweisungen gibt.

Als die Niederlassungsleiter die BWA’s Ihrer Niederlassungen zumeist bis zum DBII herunter transparent kannten.

Als die internen Besetzungen der Niederlassungen, zumeist ein NLL, ein Disponent und eine administrative Kraft, sich als Team verstanden – nicht als Konkurrenten im Team.

Natürlich war damals nicht alles besser.

Wir hatten keine Tarifverträge, hatten keinen eigenen Ausbildungsberuf und hatten – vor allen Dingen – bedeutend weniger Cashflow in der Branche.
Es gab bedeutend weniger richtige und wichtige Regularien, es gab maximale Überlassungsfristen und es gab keine Arbeitszeitkonten.

Aber dennoch hatten wir das Glück, unseren Feinden zumeist ins Gesicht blicken zu können – da das Rückgrat damals bedeutend mehr Beliebtheit erfuhr, als heute – und wir hatten das Glück dass selbst bei ungelernten Kräften ein Faktor 2,00 – 2,10 absolut realistisch zu erzielen war und eben nicht dadurch, dass die Mitarbeiter so wenig verdienten – Nein ! - , sondern weil die Kundenbereitschaft zu sittenkonformen Verrechnungssätzen einfach viel höher ausgeprägt war, als sie es heute ist.

Und nun schlage ich an dieser Stelle den Bogen zu dem Titel meines offenen Gedankenspiels :

König Lear. Ein Mann, der alles was ihm lieb und teuer war dadurch verloren hat, sich durch persönliche Eitelkeiten und sein verletztes Ego leiten zu lassen.

Manchmal wenn ich die letzte Dekade in dieser Branche reflektiere, frage ich mich, ob es uns vielleicht ähnlich geht.
Ich frage mich – trotz der enormen Expansion der Branche und den absolut positiven Prognosen für die kommenden Jahre – ob sich die Branche vielleicht durch verletzte Eitelkeit und ein gekränktes Ego selbst um vieles von dem gebracht hat, was uns ausmachte.

Auf Negativberichte welche – teils im großen, teils im kleinen Rahmen – wieder und wieder veröffentlicht werden, reagieren wir beinahe schon instinktiv und reflexgesteuert mit dem „schwarzen Schaf“-Leitfaden. Doch betrachte ich selbstkritisch die Anzahl dieser Meldungen, dann haben wir eine verdammte schwarze Herde mitten unter uns.

Betrachten wir die Preisentwicklungen des Marktes – besser gesagt den Preisverfall – wird uns bewusst, dass es wohl immer einen schlechten Kaufmann gibt, der jeden Preis annimmt, EGZ’s fest in seine Kalkulation integriert und die betriebswirtschaftliche Logik allein schon einen aktiven Missbrauch voraussetzt, damit das Projektbudget überhaupt darstellbar wird.

Wir sehen Großkonzerne, die unsere Branche systematisch dazu benutzen, einen Lohnverfall der Mittelschicht herbeizuführen und – mittelfristig unter Berücksichtigung der heutigen Prognosen – die Konsumlandschaft nachhaltig verändern werden.
Ob gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst – wir drehen an einem Rad, dass aus volkswirtschaftlicher Perspektive mehr als ungesund ist.

Wir sehen, dass die Branche teils zu etwas instrumentalisiert wurde, für das wir uns eigentlich viel zu schade hätten sein sollen. Doch die zwei oder drei oder vier Millionen pro Großkunde mehr Umsatz klangen einfach viel zu verlockend, als dass wir nicht nach diesem Apfel gegriffen hätten – oftmals begleitet von „persönlichen Vorteilen“, welche den Funktionsträgern der Besteller oftmals zuteil wurden.

Die meisten von uns sind doch der Meinung, dass das heutige Geschäft und die gängigen Praktiken der „modernen Personaldienstleistung“ absolut integer sind und über jede gesellschaftliche Debatte aufgrund ihrer unleugbaren wirtschaftlichen Notwendigkeit erhaben sein sollte.

Doch ist das so ?

Ist es erstrebenswert, dass in diesem Bereich das individuelle Profil nahezu gar keine Berücksichtigung mehr findet und an seiner statt ein monatliches oder jährliches Stundenvolumen tritt ?
Ist es effizienzsteigernd wenn – meinem persönlichen Eindruck nach – immer mehr Disponenten und NLL’s nahezu völlig ahnungslos von den Fähig- und Fertigkeiten sind, welche Ihre LAN’s zu erbringen haben – von erweitertem Wissen aus dem AÜG, der BaubetrV, dem AEntG oder dem Entgeltfortzahlungsgesetz ganz zu schweigen.

Dies sind Dinge, die sich die wenigsten von uns eingestehen, doch wissen wir alle, dass sie real sind.
Keine Schreckensgespenste der Politik oder der Gewerkschaft – es sind unsere gänzlich realen Leichen im Keller.
Ein offenes Geheimnis, welches keiner wahrhaben oder gar  thematisieren will.
„Aussitzen“ ist bisher die einzige Gegenstrategie die ich sehe.

Ich könnte nahezu endlos weiter referieren über Defizite, die jeder Interne mit einigen Jahren Erfahrung – mit knirschenden Zähnen der Einsicht – wiedererkennen wird, doch dies ist nicht mein Anliegen.

Mir ging es darum, anhand exemplarischer Missstände meine These zu untermauern, dass die Branche auf die falschen Menschen hört und sich von den falschen Motiven leiten lässt – genau wie König Lear.
Doch denke ich auch, dass wir – mit mehr Weisheit gesegnet als der besagte Monarch – (noch) aktiv gegenlenken können und müssen.
Wir sind - glücklicherweise – (noch) sehr weit entfernt von dem Ende dieser möglichen Tragödie.

Wenn die Branche eine gewisse Parallele zu König Lear aufweist, dann sollte dieser Blog – gemeinsam mit allen Lesern – und MPiD zum „Narren“ werden, der versucht, den König zur Vernunft zu bringen – im Gegensatz zu Shakespeare bevor es zu spät ist und die Tragödie ihren unwiderruflichen Lauf nimmt.

Denn ich liebe diese Branche.
Ich bin überzeugt von dem Konzept und der Struktur der Arbeitnehmerüberlassung und keinesfalls möchte das Modell der Zeitarbeit als Ganzes in Zweifel stellen.
Einzig und allein der derzeit gängigen Praxis widerspreche ich aus Schärfste.

Sind Sie meiner Meinung oder denken Sie, ich sehe die Dinge zu schwarz ?
Ich bin auf Ihre Stellungnahmen sehr gespannt und bedanke mich für Ihre Zeit.


Hochachtungsvoll 

Sebastian „100% copy & paste frei“ Strottmann












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